Johann Kuhnau – Eine kurze Biographie

© Katja Erler, 2009 – rev. 2018

 

Frontispiz zur Neuen Clavier-Übung, Erster Theil (1689), mit einem Porträt Kuhnaus. Die Landschaft im Hintergrund stellt vermutlich Kuhnaus Geburtsort Geising dar. Koloriertes Exemplar, Bach-Archiv Leipzig

 

Neben den zeitgenössischen Quellen zu Johann Kuhnaus Biographie wie Johann Matthesons „Ehren-Pforte“ und Philipp Spittas Artikel zu Johann Kuhnau in der Allgemeinen Deutschen Biographie sind die Informationen zum Lebenslauf Kuhnaus hauptsächlich Richard Münnichs Dissertation und dem Artikel von Clemens Harasim über Kuhnau in der neuen „Musik in Geschichte und Gegenwart“ (MGG) entnommen. Die umfassendste und ausführlichste Zusammenfassung stellt mit Sicherheit Münnichs Dissertation dar, da er gründlich die Quellen untersucht und ausgewertet hat und damit zu einem sehr realitätsnahen Bild über Johann Kuhnau gekommen sein dürfte.

 

Geising und Dresden (1660-1680)

Geboren am 6. April 1660 in Geising im sächsischen Erzgebirge, wuchs Johann Kuhnau dort in den ersten neun Jahren seines Lebens auf. Einer seiner Taufzeugen war Andreas Schelle. Es ist anzunehmen, dass eben dieser Andreas Schelle ein Verwandter des Vorgängers Johann Kuhnaus im Leipziger Thomaskantorat, Johann Schelle, war.1 Wenn dies tatsächlich der Fall ist, „bestanden von Hause aus enge Familien-Beziehungen zwischen Schelle und Kuhnau“2, was ihm durchaus förderlich gewesen zu sein scheint.

Der Name Kuhnau tritt „im Geisinger Kirchenbuche überwiegend in der Form Kuhn auf; […] Daneben findet sich 4mal Kühn(e?) und nur 1mal […] die uns geläufige Form Kuhnau.“3 Erstmalig begegnet der Name in dieser Form, als Johann Kuhnau 1684 zum Thomasorganisten in Leipzig gewählt wird. Im September 1682, als er sich schon einmal um diesen Posten bewarb, wurde er noch als Cuno bezeichnet und im Februar des gleichen Jahres, noch als Gymnasiast in Zittau, wurde er unter dem alten Namen Kuhn [bzw. Kuhnio] erwähnt.4 Richard Münnich schließt aus der Konstanz, in der die Namensformen in ihrer Zeit auftauchen, auf eine bewusste Umwandlung des Namens von Kuhn über Cuno zu Kuhnau. Gründe für diese Namensumwandlung lassen sich aber laut Münnich nicht ersehen.

Johann Kuhnau hatte sechs Geschwister. Von den Brüdern Gottfried und Andreas ist ebenfalls bekannt, dass sie Musiker waren. Weiterhin berichtet Münnich von Salomon Krügner, einem Verwandten Kuhnaus, der Hofmusikus in Dresden war.5 

Über die Kindheit Johann Kuhnaus ist so gut wie nichts bekannt, außer dass er recht früh, wahrscheinlich noch vor Vollendung des zehnten Lebensjahres, von zuhause fortgeschickt wurde, um eine gründliche aber kostenlose Ausbildung seinem Talent gemäß zu erhalten. Da sein Bruder Andreas bereits an der Dresdner Kreuzkirche als Ratsdiskantist untergekommen war, brauchte sich die Familie nur erneut „an den alten Hausfreund“6 Salomon Krügner zu wenden und ihm den Sohn anzuvertrauen. So siedelte Johann Kuhnau vermutlich Ende 1670 nach Dresden über und „erhielt im Februar 1671 eine Stelle als Ratsdiskantist.“7

Der Persönlichkeit Salomon Krügners, der somit – wenngleich auch nicht persönlich – auf den ersten musikalischen Unterricht Kuhnaus Einfluss hatte, muss sich die zukünftige Forschung noch widmen.

An der Kreuzschule wurden die Grundlagen für Kuhnaus Universalgelehrsamkeit gelegt.“8 Das Lehrpensum der Schule war sehr hoch und anspruchsvoll. So wurde neben Latein und Griechisch Religion unterrichtet, welche die Grundlage der gesamten geistigen Erziehung war. Auch Logik und rhetorische Übungen standen auf dem Stundenplan. Geographie und Arithmetik hingegen spielten in Dresden nur eine untergeordnete Rolle. Musikalisch wurde Kuhnau von dem Dresdner Hoforganisten Christoph Kittel unterrichtet und hatte mutmaßlich in den Jahren zwischen 1676 und 16809 regen Kontakt zum Dresdner Hofkapellmeister Vincenzo Albrici, der auf Kuhnau aufmerksam geworden war und ihm erlaubte, an den Proben der Kapellknaben teilzunehmen. Da Albrici nicht nur in der Komposition sondern auch im Orgel- und Klavierspiel ein hohes Ansehen hatte, erhielt Kuhnau in den verschiedenen Richtungen seiner Begabung eine großartige Förderung. Durch die häufigen Besuche im Hause Albrici fand Kuhnau Eingang in eine höhere Bildungsschicht. Hatte er bis dahin hauptsächlich Schul- und Kirchenluft geatmet, eröffnete sich ihm hier eine glanzvollere, lebendigere Welt. Bei Albrici gingen die zum großen Teil italienischen Mitglieder der Hofkapelle ein und aus, was den jungen Kuhnau bewog, sich zu bemühen, im Umgang mit der italienischen Sprache vertraut zu werden. Gemäß dem Bildungsideal seiner Zeit machte er sich auch die französische Sprache zu Eigen.

Als im Jahr 1680 in Dresden die Pest ausbrach, wurde Kuhnau von seinen Eltern nach Geising zurückgerufen. Dort wollte er sich auf ein Universitätsstudium vorbereiten. Noch im gleichen Jahr erhielt er von Erhard Titius, einem ehemaligen Kruzianer, eine Einladung nach Zittau, um dort am Gymnasium seine Ausbildung fortzusetzen. Titius hatte im September 1680 das Kantorat in Zittau übernommen.

 

Zittau (1680-1682)

Obwohl Andreas Hammerschmidt, dem Zittau seinen großen musikalischen Ruf zu verdanken hat, schon seit 1675 tot war, gab es in der Stadt noch genug Männer, die den zwanzigjährigen Kuhnau dorthin lockten. Ein wesentlicher unter ihnen war Christian Weise, der Rektor des Gymnasiums, der einen großen Anteil an der deutschen Geistesbildung hatte. Laut Richard Münnich war die Aussicht, bei diesem Mann in die Schule gehen zu können, ein wichtiger, wenn nicht der Hauptgrund Kuhnaus, der Einladung Titius’ nach Zittau zu folgen. Auf Grund seiner Herkunft aus einem Pestgebiet verweigerte man Kuhnau vorerst die Einreise in Zittau, er lebte deshalb vierzig Tage auf dem Rittergut Alt-Hörnitz vor den Toren der Stadt. Danach siedelte er zu Titius über, der ihm versprochen hatte, ihn bei dem Organisten Moritz Edelmann auf seine Kosten speisen zu lassen. Für Kuhnau war das ein verlockendes Angebot, da er nicht nur mit dem ehemaligen Mitschüler, sondern auch mit dem angesehenen Organisten in engeren Kontakt treten konnte. Im Dezember 1680 jedoch, nur ein paar Wochen nach Kuhnaus Ankunft in der Stadt, starb Moritz Edelmann, so dass Johann Kuhnau tatsächlich, außer den gemeinsamen Mahlzeiten, nichts mit dem Organisten verbunden haben dürfte10. Die Aussicht auf Unterricht bei dem bedeutenden Organisten wurde mit einem Schlag zunichte gemacht.

Im Mai 1681 ereilte Johann Kuhnau ein weiterer Schicksalsschlag. Sein Freund und Wohltäter Erhard Titius starb, und Kuhnau geleitete ihn zur letzten Ruhestätte. Kuhnau wurde mit der Komposition einer Beerdigungsmusik beauftragt und verfasste die fünfstimmige Motette „Ach Gott, wie lästu mich verstarren“. Sie ist sein frühestes nachweisbares Werk und „die einzige zu seinen Lebzeiten gedruckte geistliche Vokalkomposition.“11

Nach dem Tode Titius’ hatte Johann Kuhnau als Chorpräfekt die Pflicht, bis zur Wahl eines neuen Kantors dessen Stelle auszufüllen und die unbesetzte Organistenstelle an St. Johannis zu verwalten.

Auch in Zittau ist davon auszugehen, dass Kuhnau seine wissenschaftlichen Studien weiter verfolgte, ging er doch nicht zuletzt wegen des dort tätigen Christian Weise in diese florierende Stadt in der Lausitz. Er wirkte bei Schuldramen-Aufführungen Weises mit12 und komponierte dafür möglicherweise auch selbst.

Im Jahr 1682, als Johann Krieger als Nachfolger Moritz Edelmanns die Organistenstelle an St. Johannis übernahm und die Stelle als Director chori musici antrat, ging Kuhnau zum Jurastudium nach Leipzig, wie vor ihm schon sein Bruder Andreas.

Die kurze Zeit in Zittau ist also für die weitere persönliche wie musikalische Entwicklung Kuhnaus nicht zu unterschätzen. Neben Kontakten zu einflussreichen und bedeutenden Männern seiner Zeit hatte er auch viel Gelegenheit, sich auf musikalischem Gebiet zu erproben und weiter zu entwickeln.

 

Leipzig (1682-1722)

Leipzig zur Zeit Johann Kuhnaus – in: Hanke, Wolfgang: Die Thomaner, Berlin: Union Verlag, 1979, S. 52


In Leipzig fand Johann Kuhnau neben seinem Bruder Andreas noch weitere Verwandte vor, die sich an der Universität eingeschrieben hatten. Inwieweit er mit diesen Kontakt pflegte, ist nicht bekannt, allerdings ist zweifellos davon auszugehen.

1682 bewarb sich Johann Kuhnau um die durch den Fortgang Vincenzo Albricis frei gewordene Stelle als Thomasorganist und hatte im amtierenden Thomaskantor Johann Schelle einen prominenten Fürsprecher. Zwar führte die Bewerbung trotzdem nicht zum gewünschten Erfolg, aber man wurde auf Kuhnau aufmerksam. Schon 1683 bekam er die Gelegenheit, sein musikalisches Können unter Beweis zu stellen. Kurfürst Johann Georg III. war siegreich aus Wien, dessen Befreiung von den Türken er mit seiner Armee mit erwirkt hatte, zurückgekehrt und besuchte zur Michaelismesse Leipzig. Zu diesem Anlass führten die Studenten ein mehrchöriges Dramma per musica auf, zu welchem es Thomaskantor Johann Schelle dem jungen Kuhnau überlassen hatte, die Musik zu komponieren. Als 1684 durch den Tod Gottfried Kühnels abermals die Stelle des Thomasorganisten vakant wurde, bewarb sich Kuhnau erneut um das Amt und bekam es im zweiten Anlauf schließlich doch.

Neben seinen Obliegenheiten als Thomasorganist, dessen Aufgaben „Begleitung des Gemeindegesangs, Präludieren und Postludieren, sowie Ausführung des Generalbasses in den größeren Kirchenmusiken“13 waren, widmete er sich auch weiterhin dem Studium der Rechtswissenschaften, welches er 1688 mit der Dissertation „De Juribus circa musicos Ecclesiasticos“ abschloss. In den nächsten dreizehn Jahren führte er viele erfolgreiche Prozesse und erwarb sich auch als Anwalt einen guten Namen.

Im Februar 1689 heiratete Kuhnau Sabine Elisabeth Plattner, eine Leipziger Bürgerstochter, mit der er acht Kinder bekam, von denen allerdings nur drei Töchter ihren Vater überlebten.

Jedoch „diese Doppelthätigkeit [Musikus und Advokat] genügte ihm noch nicht. Er studirte eifrig Griechisch und Hebräisch, außerdem Mathematik, war als Uebersetzer französischer und italienischer Bücher thätig und versuchte sich auch als Originalschriftsteller.“14

Im Jahr 1700 erschien sein wohl bedeutendster Roman, der letzte seiner drei satirischen Romane, „Der Musicalische Quack-Salber“. “Der Schmid seines eigenen Unglücks“ von 1695 ist als Vorstufe zum „Musicalischen Quack-Salber“ anzusehen. Auch an musiktheoretischen Schriften versuchte sich Kuhnau, wie die „Fundamenta Compositionis“ zeigen.

Sein Ruf als Komponist drang in den folgenden Jahren weit über Leipzig hinaus.15 Es folgten die Veröffentlichungen seiner wegweisenden Klavierwerke, die sich gut verkauften und zum Teil immer wieder Neuauflagen erfuhren.

Dieser Lebensabschnitt zwischen 1682 und 1701 kann als Zenit sowohl im persönlichen als auch im künstlerischen Leben Johann Kuhnaus angesehen werden. Seine großen Erfolge fielen in diese Zeit: die Dissertation und erfolgreiche Tätigkeit als Anwalt, die Vervollkommnung seiner Bildung, die Komposition seiner vielbeachteten und wegweisenden Klavierkompositionen und Erfolge als Schriftsteller satirischer Romane. Seine Leistungen wurden sowohl von den Leipziger Bürgern als auch über Leipzigs Grenzen hinaus gewürdigt und hoch anerkannt.

Als 1701 Johann Schelle starb, war Kuhnaus Ruf als Musiker und Gelehrter so gewachsen, dass er vom Leipziger Rat aus vier Mitbewerbern einstimmig zu dessen Nachfolger gewählt wurde.

Thomaskantor (1701-1722)

Die Thomaskirche um 1700. Stich von Gabriel Bodedehr – in: Hanke, Wolfgang: Die Thomaner, Berlin: Union Verlag, 1979, S. 64

 

Die Neukirche nach ihrer Wiederherstellung in den Jahren 1698/99 – in: Hanke, Wolfgang: Die Thomaner, Berlin: Union Verlag, 1979, S. 50

Zu seiner Tätigkeit als Thomaskantor, „die Stelle stand im Rufe einer der angesehensten in Deutschland“16, zählten das Unterrichten an der Thomasschule in Musik und Latein und in der Katechismuslehre, die Ausgestaltung der Gottesdienste in den beiden Hauptkirchen St. Thomas (siehe oben) und St. Nikolai und in der Neukirche (siehe oben), die seit 1699 im Gemeindegebrauch war, sowie die Aufführung großer Oratorien und die musikalische Ausgestaltung der universitären Feierlichkeiten als Musikdirektor der Universität in der Paulinerkirche, die bis 1710 ausschließlich für akademische Feiern genutzt wurde. Ab 1711 gab es auch hier regelmäßige sonntägliche Gottesdienste. Seitdem war er auch für die Musik in der Peterskirche und an hohen Festtagen zusätzlich für die außerhalb der Stadttore gelegene Johanniskirche verantwortlich. Da Johann Kuhnau für fast alle dieser Gelegenheiten die Musik selbst komponiert und nur selten auf fremde Kompositionen zurückgegriffen haben soll, muss in dieser Zeit eine große Fülle an Kirchenstücken entstanden sein.17 Erhalten ist davon wenig, aber zum Teil sind uns zumindest einige Libretti der Stücke bekannt, da Kuhnau die Sitte einführte, die Texte für sonn- und festtägliche Kirchenmusiken drucken zu lassen und sie der Gemeinde in die Hand zu geben. Das hatte seinen Grund in der seit 1700 veränderten textlichen Grundlage der gottesdienstlichen Hauptmusik, die nun neben Bibeltexten und Kirchenliedern auch freie Dichtung einschloss.

In seine Amtszeit fielen einige wichtige festlich begangene Ereignisse, zum Beispiel 1709 das 300jährige Jubiläum der Universität und 1717 die Zweihundertjahrfeier der Reformation, für die er auch Festmusiken zu schreiben hatte.

Für diese vielfältigen Aufgaben standen ihm 54 Alumnen der Thomasschule, die in vier Chöre aufgeteilt wurden, und acht Ratsmusiker (vier Stadtpfeifer, drei Kunstgeiger und ein Geselle mit Gehilfe) zur Verfügung. Dass damit die vielfältigen musikalischen Aufgaben nicht adäquat umzusetzen waren, vor allem bei großen Festmusiken keine „vollständige und wohllautende Music“18 möglich war, ist offensichtlich. „An die Music von zwey oder mehr Chören, welche in großen Festtagen sollte gehöret werden, darff man vollends nicht gedenken.“19 Der Thomaskantor war also unbedingt auf die musikalische Mithilfe von Studenten der Universität, der Alma mater lipsiensis angewiesen.20

Jedoch sah Kuhnau seit Georg Philipp Telemanns Ankunft 1701 in Leipzig immer wieder seine Autorität untergraben. Der junge Telemann war zum Jurastudium nach Leipzig gekommen und wollte eigentlich ganz der Musik entsagen, was er, wohl zum Leidwesen Kuhnaus, nicht in die Tat umsetzte. Bereits 1702 übernahm er die Leitung der Oper und gründete an der Universität ein Collegium musicum. Die dort spielenden Studenten fehlten Kuhnau bei größeren Aufführungen. Auch die Disziplin der Thomasschüler diesbezüglich bereitete Kuhnau Sorgen. Wie später Bach in seinem „Entwurff einer wohlbestallten Kirchen Music“, versuchte auch Kuhnau mehrmals durch Denkschriften, die bekannteste ist die „Erinnerung […] die Schul- und Kirchenmusik betreffend“ von 1709, den Rat zu Reformen und Hilfsmaßnahmen zur Gewährleistung einer geordneten Kirchenmusik zu bewegen. Besonders erwähnenswert ist der zehnte Artikel jener „Erinnerung“. Dort beklagte sich Kuhnau über die Oper und die Musik in der Neukirche, die ihm zu opernhaft erschien. Viele seiner Schüler stellten ihr Können der Oper oder der Musik in der Neukirche zur Verfügung, „sobald sie in der Music bey des Cantoris saurer Mühe einen habitum erlanget und nüze seyn können.“21 Das ärgerte Johann Kuhnau natürlich sehr, musste er doch vor seinem Dienstantritt ein Revers unterschreiben, in welchem er sich auch verpflichtete, die Kirchenmusik nicht zu opernhaft zu gestalten. Dieser Verpflichtung kam er nicht nur nach, sondern er machte sie sich außerdem so zu Eigen, dass er sich öffentlich abfällig über den „Operisten“22 an der Neukirche äußerte – mit dem Telemann gemeint war.

Neuerlichen Übergriffen sah Kuhnau sich ausgesetzt, als der Bürgermeister Franz Conrad Romanus Telemann mit der 14tägigen Lieferung von Figuralmusik für die beiden Leipziger Hauptkirchen beauftragte, also St. Thomas und St. Nikolai, für deren musikalische Versorgung eigentlich Kuhnau verantwortlich war. Romanus sah in Telemann schon einen legitimen Nachfolger für den kränklichen Kuhnau und begründete sein Vorgehen damit, Kuhnau entlasten zu wollen. Was dieser verständlicherweise nicht so gesehen, sondern es eher als Angriff auf seine Position als Thomaskantor verstanden haben dürfte.23

Als 1704 die Orgel der Neukirche ihrer Fertigstellung entgegen ging, Telemann sich um das Organistenamt bewarb und gleichzeitig die Forderung stellte, dass „auch das Directorium der Music in obbenahmter Kirchen“24 ihm übertragen werden sollte, sah Kuhnau sich erneut der Untergrabung seiner Autorität ausgesetzt. Der Rat entschied sich tatsächlich für Telemann. Er entließ den Hilfsorganisten Christian Augst und installierte Telemann als Organisten und Musikdirektor der Neukirche, und so blieb die Figuralmusik der Neukirche auch forthin außerhalb des Einflussbereichs des Thomaskantors.

Auch als Telemann 1705 von Leipzig fort ging, kurz nachdem „die steile Karriere seines Gönners Romanus ein katastrophales Ende genommen hatte“25, änderte sich an Kuhnaus Situation nichts. 1707 gründete sein ehemaliger Schüler Johann Friedrich Fasch ein weiteres Collegium Musicum in Leipzig und wollte auch die musikalische Ausgestaltung der Gottesdienste der Paulinerkirche übertragen bekommen. Dagegen wehrte sich Kuhnau allerdings erfolgreich. Hinzu kam auch die mangelhafte Disziplin der Schüler der Thomasschule. In seinen Denkschriften versuchte Kuhnau immer wieder, Reformversuche anzuregen, jedoch scheiterten diese am Desinteresse des Rates.

In den weiteren Jahren seiner Amtszeit blieb Kuhnau dann zwar von schweren äußeren Konflikten verschont, aber die stetigen Reibereien, die geringe Anerkennung seiner Verdienste unter der Leipziger Bürgerschaft sowie zahlreiche Todesfälle in seiner Familie – zwischen 1717 und 1719 starben vier seiner Kinder – setzten dem schon lange kränklichen Kuhnau mit Sicherheit sehr zu.

Die Zeit als Thomaskantor ist also maßgeblich geprägt durch immer wiederkehrende Krankheit, private Schicksalsschläge, die stetige Untergrabung seiner Autorität und den Kampf dagegen sowie die fehlende Disziplin der Thomasschüler und das Desinteresse des Rates an Kuhnaus Reformvorschlägen. Trotz allem war Kuhnau auch in dieser Zeit als Komponist sehr produktiv. Zwischen 1701 und 1722 komponierte er hauptsächlich vokale Kirchenmusik in der Tradition seiner Vorgänger Sebastian Knüpfers und Johann Schelles. Er knüpfte jedoch offenbar nicht mit weiteren Werken an die Erfolge seiner Klavierkompositionen an. Trotz seiner zur Schau gestellten Abneigung gegen die neuen Strömungen in der Musik verschloss er sich ihnen jedoch nicht grundsätzlich, was in seinen Kirchenkantaten immer wieder sichtbar wird. Johann Adolf Scheibe, ein großer Anhänger des neuen Stils, bescheinigt ihm dennoch in seinem Critischen Musikus:

Kuhnau war in der Ausarbeitung seiner Stücke noch nicht sinnreich und poetisch genug. Er ist hie und da von dem Strome der harmonischen Setzer hingerissen worden; dahero ist er sehr oft matt, ohne gehörige poetische Auszierungen, und ohne verblühmte Ausdrückungen, und folglich hin und wieder prosaisch. Daß er aber diese auch eingesehen, und zuweilen überaus sinnreich und poetisch zu setzen gewußt hat, zeigen seine Klaviersachen, und seine letzten Kirchenarbeiten, vornehmlich aber sein Passionsoratorium, das er wenige Jahre vor seinem Tod verfertigte. Wir sehen auch aus diesen Werken, wie deutlich er den Nutzen und die Notwendigkeit des Rhythmus erkannt hat. Daher ist es auch gekommen, daß er beständig bemühet gewesen, alle seine Kirchensachen melodisch einzurichten, und dieselben fließend und sehr oft recht rührend zu machen; ob es ihm schon mit theatralischer Arbeit niemals geglücket hat.“26

Nachprüfen lassen sich diese Aussagen heute nur bedingt, da ein sehr großer Teil der kirchenmusikalischen Werke, darunter das erwähnte Passionsoratorium verschollen ist und von der weltlichen Vokalmusik nichts erhalten blieb. Trotz aller erwähnten Kritik war Kuhnau zu seiner Zeit ein sehr geschätzter und hoch geachteter Mann. Bei Mattheson liest man dazu:

Sein Nahme kann in allen dreien Stockwercken unsrer Ehrenpforte Platz haben: als ein braver Organist; als ein grundgelehrter Mann; und als ein grosser Musikus, Componist und Chorregent. Fürs erste wüsste ich, in allen diesen Stücken zusammen, noch seines gleichen nicht.“27

Unter Kuhnaus Schülern sind als besonders namhaft Johann Friedrich Fasch, Johann David Heinichen und Christoph Graupner zu erwähnen. Aber auch in einem weit größeren Kreis hat er Spuren hinterlassen. So schätzten Georg Friedrich Händel und Johann Mattheson seine Klavierwerke hoch ein; Georg Philipp Telemann schreibt in seiner Autobiographie, dass er den Kontrapunkt vor allem aus den Kompositionen Kuhnaus gelernt hat. Und auch Johann Sebastian Bach, mit dem Kuhnau 1716 die Orgel der Liebfrauenkirche in Halle abnahm, blieb nicht unbeeinflusst von dessen Schaffen.28

Am 5. Juni 1722 starb Johann Kuhnau, nachdem er 38 Jahre lang an der Leipziger Thomaskirche tätig war, davon 21 Jahre als Thomaskantor. In einem Nachruf, der in einem Leipziger Jahrbuch erschien, ist zu lesen:
Was er nächstdem an Musicalischen Kirchen-Stücken, insonderheit seit anno 1701, da er Cantor und Director Musices worden, componiret habe, mag wohl schwerlich zu zehlen seyn, gestalt er bey seinen häuffigen musicalischen Aufführungen sich fremder Composition niehmals oder doch gar selten bedienet, da hingegen mit seiner Arbeit er andern vielfältig aushelffen müssen.29

Die Protagonisten des Kuhnau-Projekts fühlen sich diesem Erbe verpflichtet und hoffen, es mit ihrer Arbeit wieder an das Licht einer breiten Öffentlichkeit bringen zu können.

Kirchenmusik in der Thomaskirche unter Johann Kuhnau. Bild in „Unfehlbare Engel-Freude oder Geistliches Gesangbuch“, Leipzig 1710 – in: Schering, Arnold: Musikgeschichte Leipzigs in drei Bänden. Zweiter Band: von 1650-1723, Leipzig: Fr. Kistner & C. F. W. Siegel, 1926, S. IV

1 vgl. Münnich, Richard: Johann Kuhnau. Sein Leben und seine Werke, S. 3

2 ebd., S. 3

3 ebd., S. 4

4 vgl. ebd., S. 4

5 vgl. ebd., S. 6

6 ebd., S. 7

7 Harasim, Clemens: Johann Kuhnau in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Sp. 825

8 ebd., Sp. 825

9 vgl. Münnich, Richard: Johann Kuhnau. Sein Leben und seine Werke, S. 17

10 vgl. ebd., S. 22

11 ebd., S. 23

12 vgl. ebd., S 27

13 ebd., S. 34

14 Spitta, Philipp: Johann Kuhnau in: Allgemeine deutsche Biographie, S. 344 (Internet)

15 vgl. Harasim, Clemens: Johann Kuhnau in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Sp. 825

16 Schering, Arnold: Musikgeschichte Leipzigs, S. 44

17 vgl. Harasim, Clemens: Johann Kuhnau in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Sp. 826

18 zit. nach: Glöckner, Andreas: „…daß ohne Hülffe derer Herren Studiosorum der Herr Cantor

keine vollstimmende Music würde bestellen können…“ in: Bach-Jahrbuch 2001, S. 131

19 zit. nach: ebd., S. 133

20 vgl. ebd., S. 132

21 zit. nach: Felix, Werner: Aus der Geschichte des Thomaskantorats zu Leipzig, S. 4

22 Glöckner, Andreas: „…daß ohne Hülffe derer Herren Studiosorum der Herr Cantor keine

vollstimmende Music würde bestellen können…“ in: Bach-Jahrbuch 2001, S. 132

23 vgl. Glöckner, Andreas: Johann Kuhnau, Johann Sebastian Bach und die Musikdirektoren der

Leipziger Neukirche in: Beiträge zur Bachforschung 4, S. 24f.

24 zit. nach: ebd., S. 26

25 ebd., S. 26

26 Scheibe, Johann Adolph: Critischer Musikus, S. 764

27 Mattheson, Johann: Grundlage einer Ehren-Pforte, S.158

28 vgl. Harasim, Clemens: Johann Kuhnau in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Sp. 826

29 zit. nach: Maul, Michael: Vorwort. In: Erler, David (2017, Hrsg.): Johann Kuhnau (1660-1722): Magnificat. Wiesbaden: Breitkopf & Härtel. Partitur-Bibliothek PB 32108, S. III.